Udos Sonderzug aus Pankow rollt zum Kanzler nach Magdeburg
Bis unter die Linden hörten die Passanten gestern Mittag die Melodie zum "Sonderzug nach Pankow", gespielt von einer Blaskapelle, mitgesungen von mehr als 1000 Berlinern, die auf dem Bahnsteig des Bahnhofs Friedrichstraße bei Freibier und Rotkäppchensekt auf ihren selbst ernannten Panikpräsidenten warteten. Vor rund 20 Jahren hatte Udo Lindenberg den kessen Text gedichtet. Am Tag der Deutschen Einheit nun wollte er mit mehreren hundert Freunden, Pauken und Trompeten, Rockern und Anhängern im Reichsbahngefährt zum Festkonzert auf den Magdeburger Domplatz sausen, wo er zum 30. Geburtstag seiner Band Panikorchester aufspielen sollte. Motto der Reise: "Sonderzug aus Pankow".
Um 12.15 Uhr setzen sich die Wagen in Bewegung. Lindenberg steht im leer geräumten Speiseabteil. Nun bleibt Udo kurz mal Zeit, Udo zu sein. Mit Hut und Sonnenbrille hockt er sich hinter den Tresen. "Ich helf' Dir gern", ruft er dem 24-jährigen Barmann Tobias zu. "Ich kenn' mich aus, mein erster Beruf war im Hotelfach." Tobias winkt grinsend ab und freut sich insgeheim. Als Kind lief bei seinen Eltern in Marzahn "der RIAS rauf und runter", verrät er später, "da bin ich mit Udo bestens vertraut."
Der Zug gleicht bald einem rollenden Zirkus. Artisten von Pomp Duck und Circumstance treiben ihren Schabernack, eine Clown-Dame rast auf Rollschuhen durch die Gänge, man begegnet Nina Hagen und Yvonne Catterfeld, und in jedem Wagon stehen Doubles von Lindenberg.
Gerhard Schröder wird Udo in Magdeburg erwarten - welcher Politiker schmückt sich nicht gern mit einem so unterhaltsamen Symbol der Deutschen Einheit?
Und als solches leistet man sich auch unbeschwert einen Werbe-Coup, wie jenen, zu dem der Panik-Zug nach zwei Stunden im Örtchen Baby zum Halt kommt. Vier Meter hoch wurde aus Kunststoff und Holz eine Mauer errichtet, Udos "Mauer der Depression", die es trotz Wende noch immer im ganzen Land gebe und die das eiserne Ross jetzt gleich mal "durchfetzen wird", wie Lindenberg übers Bordmikro mitteilt.
An den Schienen stehen wieder Hunderte von Fans, es gießt in Strömen, eine Schützengruppe in preußischem Kostüm feuert Herzstoppende Böllerschüsse ab. Udos Panikorchester, Ben Becker und Otto Sander finden sich in Abteil eins ein. Schüttelreime im "Frau-Wirtin"-Stil werden rezitiert, bis Sander in die Runde ruft: "Ruhe, das ist hier ein historischer Augenblick." Schon ruckt der Zug an, die Preußen schießen aus allen Rohren, und laut polternd fällt das Mauer-Werk in die Schienengräben.
Kurz darauf rollt der Zug hupend in Magdeburg ein. Lindenberg lässt das Zippo-Feuerzeug klicken, seine Doubles strömen ihm hinterher auf den menschenvollen Bahnsteig D, wo Gerhard Schröder steht. Man grüßt sich, ist nett zueinander, lacht in die Objektive, und alles ist so wiedervereinigungsmäßig schön, dass der Kanzler zum Mikro greift und Udo erklärt, er müsse jetzt aus terminlichen Gründen fort, aber er sei sicher, dass "die nächsten 30 Jahre als Panik-Orchester gebucht sind. Wie du dann aussehen wirst, wird man sehen, du als Chef des Panik- Orchesters, ich als Chef der Bundesregierung, abgemacht?" Weil das jetzt keiner so richtig politisch oder rechtlich einordnen kann, bleibt der Ausspruch vorerst unkommentiert. Zur Zerstreuung singt Udo ein paar Zeilen "Sonderzug nach Pankow", und schon ist die Stimmung wieder top.
Quelle: Welt, 04.10.03