Der rockende Geschichtslehrer
43 reguläre Studioalben hat Udo Lindenberg im Laufe seiner Karriere bereits veröffentlicht. Im Januar betritt der Panik-Rocker ein neues Feld. Sein Musical "Hinterm Horizont" feiert Premiere.
Das Atlantic in Hamburg ist eine ganz besondere Herberge. Hier hat Udo Lindenberg seit vielen Jahren sein Quartier bezogen. Welchen deutschen Rockstar kann man schon treffen, ohne sich vorher anzumelden? Man sitzt in der Lounge, schlürft einen Cappuccino und siehe da: plötzlich schreitet der Mann mit dem Hut die Treppe hinab. Fürwahr ein bühnenreifer Auftritt und gleichzeitig in privatissime.
Später beim Interview sind die Privatperson und der Entertainer Udo Lindenberg nicht mehr auseinander zu halten. Ohne Kopfbedeckung und dunkle Brille setzt der Mann zwar keinen Schritt vor die Tür, aber entwickelt sich das Gespräch nach seinem Gusto, kommt mit etwas Glück irgendwann das Gesicht hinter der Maske zum Vorschein. Dann spricht er leise über die Selbstzweifel, die ihn in seiner zweiten Lebenshälfte plagten oder über das Musical "Hinterm Horizont". Es erzählt mit den großen Hits des Sängers ein Stück deutsch-deutscher Geschichte und feiert am 13. Januar im Theater am Potsdamer Platz in Berlin seine Weltpremiere. Das "Mädchen aus Ostberlin" wird gespielt von Josephine Busch (23), und Serkan Kaya (33) gibt den jungen Udo.
Keine üblichen Musical-Attribute
Das Libretto stammt aus der Feder von Thomas Brussig ("Sonnenallee"), Uli Waller vom St. Pauli Theater Hamburg führt Regie. Als musikalischer Oberaufseher fungiert Andreas Herbig, der bereits Lindenbergs sensationelles Comeback-Album "Stark wie Zwei" produzierte. Eine Kooperation zwischen Udo Lindenberg und dem Branchenriesen Stage Entertainment ("Der König der Löwen", "Ich war noch niemals in New York") - das impliziert ein Musical für die ganze Familie und lässt den Fan des wahren Rock'n'Roll erschauern.
"Auf der Bühne stehen echte Brüllboxen mit ordentlichem Sound und reichlich Rock'n'Roll-Lampen", näselt der Sänger in seiner unnachahmlichen Art. "Unsere Stilistik eben. Tanzen wird auch nicht das Fernsehballet. Uli Waller arbeitet nicht mit den üblichen Musical-Attributen, er macht etwas sehr Spezielles. Eine Fusion von Theater à la Zadek, Musical und Rock'n'Roll. Wir werden zum Beispiel auch Konzertszenen haben."
Größer, höher und teurer
Um aus der Masse der Musicals herauszustechen, muss es größer, höher und teurer sein. Aus stählernen Schiffsspanten, Kunststoffschaum und Teppich wurde eine acht Meter breite und drei Tonnen schwere Attrappe von Udo Lindenbergs Hut aufgebaut. Das Bühnengeschehen ist fokussiert auf den monströsen Filzdeckel, der mal auf den Bühnenbrettern liegt, mal über den Darstellern schwebt.
Eine Ostalgie-Komödie sei es auf keinen Fall, betont der selbsternannte "Flexibilist", der von der Stasi bespitzelt wurde und nur ein einziges Mal in der DDR auftreten durfte. "Es ist eine wahrhaftige Geschichte, wie ich es auch in meinen Songs überwiegend gemacht habe, die von deutsch-deutschem Leben erzählen. Aber sie beinhaltet auch Scherze. Themen wie Stasi, Inhaftierungen, Belehrungen, Flucht und Schießbefehl werden dabei nicht ausgespart. Das Stück ruft dazu auf, dass sich die Menschen aus dem Osten und dem Westen intensiver und sensibler begegnen."
Lindenberg und die deutsch-deutschen Beziehungen
Im "Sonderzug nach Pankow" verhohnepipelte der Sänger einst den DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker. 1987 kam es zu einer ziemlich angespannten Begegnung in Wuppertal, wo ihm Lindenberg eine Gitarre überreichte mit den Worten: "Gitarren statt Knarren".
Der Nuschler der Nation schwelgt in Erinnerungen, während seine Brille wackelt: "Mit dem Ding in den Flossen machte Honecker einen sehr bedröppelten Eindruck. Ein Steiftier von der ganz weggetretenen Sorte. Honecker dachte, die Gitarre stand ihm nicht so gut und wollte sie gleich wieder weiterreichen. Ich sagte: "Herr Honecker, halten Sie sie doch mal für ein paar schöne Fotos". Und ich fragte ihn: "Wann spielen wir mal wieder in der DDR?" Seine Antwort: ,Die FDJ will sich drum kümmern.' Den Rest der Story kennt man ja."
Unplugged-Album im Frühjahr
Das Unikum Udo Lindenberg stand schon immer über allen Moden und Trends und ist längst zur eigenen Marke geworden. Kein deutscher Altrocker ist so häufig geehrt worden wie er, aber wie ein Snob benimmt er sich nicht, auch wenn er Zigarre paffend jegliche Nichtrauchergesetze ignoriert. 43 reguläre Studioalben hat der gebürtige Gronauer seit 1971 veröffentlicht, im Frühjahr soll ein MTV-Unplugged-Album erscheinen.
Da Lindenberg sein Privatleben in der Regel geheim hält, kam seine Liaison mit Popstar Nena erst Jahre später an die Öffentlichkeit. "Nena und Udo, das passte. Wir fanden es gut, das irgendwie geheim zu halten, immer gut getarnt, wie Geheimagenten. Das waren ganz inspirable Zeiten. Uns verbindet heute eine tolle Freundschaft." Seit zwölf Jahren ist Tine Acke inzwischen seine Lebensgefährtin, engste Komplizin und Muse. Die 33-jährige Fotografin aus Hamburg bezeichnet sich selbst als Lindenbergs härteste Kritikerin. "Immer, wenn alle anderen ihn vollschleimen, sage ich: hmm, mal überlegen. Ich glaube, ich bin von allen die Kritischste."
Selbstzweifel in der zweiten Lebenshälfte
Unterdessen verweigert sich Udo Lindenberg der irdischen Zeitzählung. Im Mai 2011 wird er 65. Zahlen sind ihm "scheißegal", aber er gibt zu, in seinen 50ern ziemliche Selbstzweifel gehabt zu haben. Die schwierige Frage, wie er die Kurve von einem eher jugendbetonten "Gummihosenkasper" zu einem würdevollen Rock-Chansonier kriegen sollte, zu dem er ja dann auch wurde, hatte ihm fast den Verstand geraubt. Wollte er in die Rolle von großen alten Jazzern hineinwachsen oder so werden wie Yves Montand oder Charles Aznavour? "Im Rock'n'Roll tummeln sich wenige Figuren, an denen du dich orientieren kannst", findet der Sänger. "Es gibt Mick Jagger, David Bowie oder noch Bob Dylan. Viele Musiker bauen im Alter entweder ab oder hören total auf. Aber bei mir war mit Mitte 50 kein Ende abzusehen. Wie sollte ich also in meine 60er oder 70er Jahre reinwachsen?"
Da Udo Lindenberg diesen Weg nicht nüchtern suchte, sondern in Verbindung mit Alkohol und sonstigen Drogen, gibt es aus dieser Zeit ein paar ziemlich harte Geschichten. Man darf gespannt sein, ob auch die in seinem Musical erzählt werden.
Quelle: shz, 27.12.10