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"Ich sehe mich als kleinen Bruder von Hermann Hesse"

Erst die Comeback-Platte, dann das Buch dazu: Udo Lindenberg veröffentlicht den Bildband "Stark wie Zwei". Mit SPIEGEL ONLINE sprach er über die Schwierigkeit, neue Themen zu finden, seine Verdienste ums Gegenwartsdeutsch - und Drogen als zusätzliche Lampe im Leben.

SPIEGEL ONLINE: Herr Lindenberg, Ihr spektakulär erfolgreiches Comeback-Album "Stark wie Zwei"
sei "die schwerste Plattengeburt" ihrer Karriere gewesen, steht in dem nun dazu veröffentlichten Bildband. War Ihr Karrierebeginn einfacher?

Lindenberg: Nein, bei meinen ersten Platten war das ähnlich. Damals, vor fast vierzig Jahren, galt es ja, die deutsche Sprache für den Sound der Rockmusik neu zu erfinden. Es gab wenig Vorgaben und an jeder Ecke hörte man: Das geht nicht, denn die Sprache des Rock ist Englisch. Aber ich wusste: Es muss irgendwie gehen. Und ich dachte: Slang, Sprüche, Straße, Graffiti, also der ganze Szeneschnack, das muss in deutsche Texte rein. Man muss sich eben 'ne Flasche Doppelkorn reinziehen und dann läuft schon was. Ging dann ja auch.

SPIEGEL ONLINE: Was war das Problem bei Ihrem letzten Album "Stark wie Zwei", mit dem Sie sich 2008 nach jahrelanger Auszeit zurückmeldeten?

Lindenberg: Es fehlten erst mal neue Motive, neue Themen. Ich hatte bis dahin in meiner Karriere viele Songs gemacht, so an die sechshundert, siebenhundert Dinger. Und danach wurde es ein bisschen knapp mit wirklich neuen Storys. Vor vierzig Jahren konnte ich noch aus dem Vollen schöpfen: Kindergeschichten, Jugenddinger, Schule, erste Liebe, Petting, Ablösen vom Elternhaus, die ersten Trampereien, in die große Stadt kommen und es da bringen, et cetera. Dazu kam Politisches und so. Ich hab' dann viel mit Freunden wie Annette Humpe, Jan Delay, Ulla Meinecke, Helge Schneider über den Kick debattiert, den eine neue Platte von mir nach einer Pause von acht Jahren haben müsse.

SPIEGEL ONLINE: Was kam dabei raus?

Lindenberg: Andreas Herbig, der Produzent des Albums, sagte mir, er wolle die Platte wie eine Art Fan angehen. Nach dem Motto: Was interessiert mich jetzt an Udo? Wie steht mein Udo jetzt so in der Welt und wie sieht Udo das echte Leben? Und musikalisch: Wie kann man den lässigen Charme meiner frühen Platten aus den Siebzigern wieder hinkriegen, diesen schluffigen, etwas groben Straßensound? Ich musste Storys und Feelings finden, die mit meinen Leben jetzt wirklich richtig was zu tun haben; Älter werden, abkratzen, Sauferei, Drogen. Was einen Vogel wie mich halt so ausmacht. Dann habe ich in mich reingehorcht mit riesigen dicken Taschenlampen. Tief runter in meine Seele. Was Themen angeht, war ich streckenweise einfach nicht so sicher. Ich hatte viele Textfragmente auf Bierdeckeln und Kritzel-Kratzel, hab vieles weggeschmissen und dann später doch wieder rausgezogen aus dem Papierkorb.

SPIEGEL ONLINE: Entsprach das Bild, das der Produzent Andreas Herbig von Ihnen hatte, Ihrem eigenen Verständnis von sich?

Lindenberg: Mit der Zeit immer mehr. Ich hatte zwar viele Geschichten gelesen, die mich beeindruckt hatten, im SPIEGEL, im "Stern", in der "Zeit", zu Themen über die ich schreiben wollte. Aber diese Storys hatten alle nicht wirklich tief drin mit mir zu tun. Aber so sollte die Platte werden, direkt über mich; Lieder, die direkt und prall aus meinem Herzen und meinem Kopf sprechen.

SPIEGEL ONLINE: Wie haben Ihnen denn Kollegen wie Jan Delay oder Annette Humpe konkret geholfen?

Lindenberg: Ich hatte manchmal einfach Schwierigkeiten, die richtigen, echt neuen Themen und Formulierungen zu finden. So wie bei dem Lied "Woddy Woddy Wodka" das so gestaltet werden musste, dass kein Komatrinker-Song draus wird, sondern der eines Erkenntnis-Trinkers beziehungsweise Erleuchtungs-Drogisten. Da haben die mir geholfen.

SPIEGEL ONLINE: Mit Alkohol kennen Sie sich aus.

Lindenberg: Ja, ich habe meine Erfahrungen mit Alkohol gemacht. Ich bin kein LSD-Freak oder sonst Psychedeliker. Davor habe ich Angst. Mein Kopf ist sowieso schon genug Spielautomat, und ich hab' Angst, den dann noch mehr durcheinander zu bringen, als er es bereits ist. Die Sauferei reicht mir voll. In der Kneipe Ritze mal unterm Tisch liegen, mal kommt der Notarzt um die Ecke, kennt man ja. Also ganz der Künstler, der sich dahin vorwagt, wo sich sonst keiner hintraut. Wo jeder Angst kriegt. Exzesse, Ausnahmezustände, auf der Suche nach noch weiteren, bisher nicht gekannten Kicks. Da bin ich ja nicht alleine. Das geht ja von "Faust" bis "Steppenwolf". Auch Freud und viele andere wären nüchtern auf vieles nicht gekommen. Die Droge funktioniert manchmal als zusätzliche Lampe im Leben.

SPIEGEL ONLINE: Hat sich Ihr Vokabular in den vierzig Jahren ihrer Karriere sehr geändert?

Lindenberg: Ja, ich denke schon. Bei "Daumen im Wind", meinem ersten deutschsprachigen Album, hatte ich ja noch Reinhard Mey im Kopf. Die Aussprache, die Artikulation hatte ich von ihm. Ich hab ihm das auch mal gesagt: "Reinhard, ich hab mir viel bei dir abgeguckt von deinem klaren Talk da." Er konnte das gar nicht glauben.

SPIEGEL ONLINE: Wie radikal fühlte es sich Anfang der Siebziger an, als alle hierzulande Englisch sangen, auf Deutsch zu singen?

Lindenberg: Es war einfach eine Notwendigkeit, weil ich auf Englisch viele Sachen, die ich sagen wollte, nicht so rüberkriegte, wie ich sie ausdrücken wollte. Mein Englisch war dafür zu limitiert. Ich konnte ein bisschen jive talk, gelernt in Ami-Clubs, aber die Grenzen waren zu eng. Außerdem liebte ich die deutsche Sprache. Ich las Hermann Hesse, Goethe und Wondratschek. Alle sangen Englisch, ich schrieb auf Deutsch. Ich hatte nur Angst, dass mir da jemand zuvorkommt, dass ich nicht der Erste bin als Breitensportler, der dafür sorgt, dass die ganze Nation auf dem Kopf steht. Aber dann ging das ab über Nacht, so schnell, dass mich das auch gewundert hat. Am Ende meines Bettes, vor meinen goldenen Tanzfüßen, hatte ich zur Feier einen Altar für meine Platte "Daumen Im Wind", geschmückt mit Wunderkerzen. Hallelujah.

SPIEGEL ONLINE: Hatten Sie davor nicht auch ein Album auf Englisch veröffentlicht?

Lindenberg: Ach, die englische Platte war ein Flop, siebenhundert verkaufte Dinger. Mit der wollte ich ja gleich Weltstar werden, was für'n Quatsch. Denn Weltstars singen Englisch, klare Sache, dachte ich. Klappte nicht. Aber "Daumen im Wind" mit "Hoch im Norden" drauf war dann weit vorne. Heino und Co. mussten zurück auf die hintersten Chart-Plätze. Das war supergeil und schwer ermutigend.

SPIEGEL ONLINE: Was unterschied Sie von den ambitionierten Krautrockern, die auch gegen den Mainstream musizierten?

Lindenberg: Meine kessen Sprüche, denn ein paar Jokes müssen immer sein. Das unterschied mich von den Guru Gurus und Popul Vuhs, von den ganzen langen Gesichtern, von der Wichtigtuerei, diesem langweiligen ewigen Ernst und den Jesuslatschen. Dieses ganze Missionarstum war nichts für mich. Für mich musste Musik locker abkrachen. Partytime, an der Bar rumstehen und einen absaufen gehörte eben auch dazu. Das hatte ich mir in England abgeguckt, bei The Faces mit Rod Stewart und Free und Bad Company und so. Mit denen hingen wir dann auch mal am Tralafiti-Tresen ab.

SPIEGEL ONLINE: Wann kam bei Ihnen das Politische in die Texte?

Lindenberg: Die politische Dimension kam in den achtziger Jahren hinzu. In diese Richtung brachten mich auch einige gute, höchst politambitionierte Freunde. Zu "Rock gegen Rechts", zu Themen wie AKWs, Besetzerszene, der DDR-Stress. War alles gut und prima so - und dürften auch einiges bewirkt haben, diese Songs. Ja, und jetzt: dass mir auf meine etwas älteren Tage mein größter Plattenerfolg aller Zeiten an den Hut geflogen kommt, ist schon 'n Flash. Ich wache jeden Morgen mit einem Lächeln auf.

SPIEGEL ONLINE: Gibt es beim Schreiben von Liedern eine Routine oder ist das immer wieder ein Kampf?

Lindenberg: Kampf und Spiel. Routine gibt es für mich nicht. Ich bin immer auf der Suche, bin ein Abenteurer auf dem Sprung, der neue Bilder finden muss. Aber, wie gesagt, das ist schon schwer nach so vielen Texten. Wenn ich jetzt schreibe: An manchen Texten hänge ich drei Jahre und manchmal geht's in drei Minuten, alles ist möglich. Übrigens: Nächstes Jahr kommt "MTV Unplugged" mit'n paar neuen Songs von mir.

SPIEGEL ONLINE: Im Refrain Ihres Songs "Wenn du durchhängst" heißt es: "Alles andere geht uns am Arsch vorbei". Kann man behaupten, dass das eine typische Udo-Lindenberg-Zeile ist?

Lindenberg: Kann man. Die musste in diesem Lied aber auch genau so sein. Das Lied ist so hinreißend schön, die Melodie so nice, das musste ich irgendwie brechen. Sonst kommt man leicht in eine zu gefällige Ecke. Und über Worte wie "am Arsch vorbei" freuen sich übrigens auch die Kinder. Geht es um Schularbeiten und früh ins Bett gehen müssen, sagen die jetzt: "Ey, Alte, geht mir am Arsch vorbei."

SPIEGEL ONLINE: Sie bekommen den Jacob-Grimm-Preis für Verdienste um die deutsche Sprache verliehen. Hat Sie das überrascht?

Lindenberg: Ja. Und die Carl-Zuckmaier-Medaille hab ich ja auch bereits. Die mögen halt alle meinen spielerischen Umgang mit der deutschen Sprache, wie er jahrzehntelang nicht so üblich war. Worte formen wie Kaugummi, Knetgummi - wie mit dem Jonglierball damit umgehen. Alles geht, keine Limits. Ich sah da nie Begrenzungen - und wusste, mit Sprache kann man alles machen. Unsere deutsche Sprache klingt sehr schön, na ja, vor allem, wenn ich sie singe. Dieses "Das kann man nicht sagen" akzeptierte ich nicht, man kann nämlich alles sagen. Bin jetzt auch in vielen Schulbüchern drin. Eben auch, weil man andere mit Sprachexperimenten ermutigt, das auch zu tun. Jedes Abenteuer öffnet eine Tür. Und dass so ein Preisgremium das anerkennt, ist doch toll.

SPIEGEL ONLINE: Sie arbeiten gern ungestört. Nachts, auf hoher See, und besonders gern im Auto. Stimmt das?

Lindenberg: Genau, in meinem Porsche. Das ist ganz locker, da wird man nicht gestört und kommt auf viele Ideen. Handy aus, 300 Sachen, Raumkapsel. Wenn ich im Hotel rumsitze, wo ich wohne, kommen dauernd Leute und wollen Udogramme. Wenn man aber mit einem Kumpel wie Jan Delay ganz allein sein will, um zu schnacken, ist ein Rennauto genau das Richtige. Oder auch mal ganz alleine. Eisenharte Begegnung mit sich selbst.

SPIEGEL ONLINE: Welche Musik hören Sie im Auto?

Lindenberg: Meine Demos und andere CDs. Zur Zeit "Love" von den Beatles, "Station To Station" von Bowie, aber auch gern mal Robert Schumann, Mozart und Grieg. Auch große Chöre sind super, da krieg ich schon mal tränennasse Augen, bin ganz gerührt und muss rechts ranfahren. Mein Auto ist wie Apollo 11, wenn ich unterwegs bin. Ich schreibe auch gern nachts im Hotel, wenn alles pennt.

SPIEGEL ONLINE: Merken Sie, wenn ein Stück besonders gut geworden ist?

Lindenberg: Ja, merk' ich meistens. Ich denk' dann, wer hat das eigentlich geschrieben? Da muss wohl der Heilige Geist mitgemacht haben, allein kann ich so was nicht.

SPIEGEL ONLINE: Haben Sie sich schon mal gegoogelt?

Lindenberg: Klar, ich muss ja immer nachschauen, was es Neues gibt über mich. Und die meisten Geschichten über mich stimmen sogar. Die Journaille geht zur Zeit ziemlich straight mit mir um.

SPIEGEL ONLINE: Im Buch steht, dass Clint Eastwood ein Idol für Sie ist. Warum?

Lindenberg: Weil er mit Achtzig immer noch ganz vorn ist. Weil er, wenn er rausgeht aus der Kneipe, seine Geheimnisse mitnimmt.

SPIEGEL ONLINE: Haben Sie ihre Geheimnisse bewahrt?

Lindenberg: Natürlich. Ich achte da sehr drauf. Das habe ich von Marlene Dietrich gelernt, die ich ja noch gut kannte, auch, wenn es nur eine Telefonfreundschaft war. Die sagte mal zu mir: "Udo, du musst nicht in jeder Talkshow von deinen ganz privaten Sachen oder deinen Haushaltsangelegenheiten reden. Das Kapital des Langzeit-Stars ist die geheimnisvolle Aura, die ihn umgibt. Du musst den Menschen Projektionsflächen lassen für ihre Phantasie. Du brauchst Geheimnisse, du darfst nicht alles erzählen, die Leute müssen träumen können, sonst geht die Spannung weg.

SPIEGEL ONLINE: Marlene Dietrich war ein deutscher Weltstar. Was ist deutsch an Udo Lindenberg?

Lindenberg: Die Tradition großer Komponisten, denn davon haben wir in Deutschland viele, viele gehabt. Die Tradition großer Schreiber. Ich sehe mich als einen kleinen Bruder von Hermann Hesse. Hesse gilt zwar als Teenager-Schreiber, geht aber sehr tief, auch, wenn du älter bist - musst du nur entdecken. Ich reise auch an Hesses Lebens- und Tatorte und schau mich da um.

SPIEGEL ONLINE: Ihnen wurde 1989 das Bundesverdienstkreuz für Ihre Verdienste um die deutsch-deutsche Verständigung verliehen. Hat Sie das berührt?

Lindenberg: Ich hatte damals ein ambivalentes Verhältnis dazu, aber habe es dann jokemäßig mal angenommen und mir ans Revers geheftet. Ich habe es später auch mal einigen Freunden geliehen - und einem ist es dann auf dem Kiez leider in den Gully gefallen.

SPIEGEL ONLINE: Und da liegt es noch?

Lindenberg: Nee, das haben wir wieder rausgeholt. Dann war es mal wieder weg, aber eines Tages kommt das dann ins Museum.

Quelle: Spiegel, 21.10.10