Blue Flower

Ein Udonaut im Himmel

Halle (Saale)/MZ. Kurz bevor es zu spät war, bemerkte der zuständige Oberleutnant Müller aus der Hauptabteilung XX der Staatssicherheit seinen Fehler doch noch. Es gibt gar kein "Grohnau" in der BRD, in dem der "Orchesterleiter" Udo Lindenberg geboren sein könnte! Müller, offenbar in Eile und ohne Tipp-Ex, strich das überflüssige "h" auf dem Befehl zur Fahndung nach dem Hamburger Musiker kurzerhand durch.

 

Ja, "Gronau" muss es heißen, das weiß knapp fünf Jahrzehnte später jeder. Gronau, ein Städtchen im münsterländischen Kreis Borken, ist das Graceland der Udo-Verehrung, der Ort, an dem alles begann. Die Rampe, von der der Udonaut, der kommenden Dienstag seinen 65. Geburtstag feiern wird, einst in den Pophimmel startete.

 

 

Das war vor genau 40 Jahren, als Udo Gerhard, der jüngere der zwei Söhne von Hermine und Gustav Lindenberg, nach Jazzexperimenten mit Klaus Doldinger von seinem Schlagzeugstühlchen aufstand und zu singen begann. Schon ein Jahr später hatte er mit "Hoch im Norden" einen Klassiker geschaffen. Und sich die Figur der schnoddrigen Deutschrockdrossel erfunden, als die er seitdem selbst zum Klassiker wurde.

 

Heute ist Udo überall. Politiker loben, Kollegen schätzen, das Publikum liebt ihn. Udo ist der Mann, auf den man sich einigen kann. Alte Fans klampfen "Cello", jüngere feiern "Mein Ding". Der Rest huldigt ihm durch einen Besuch im Musical "Hinterm Horizont".

 

Und doch bleibt Lindenberg, der sich seit Jahren in einer Schutzrüstung aus Fliegenbrille und Cowboyhut versteckt, ein Mann, der nicht zu fassen ist. Wenn er spricht, klingt er wie ein Udo-Imitator. Wenn er angetrunken über die "Wetten, dass..."-Bühne wankt, dreht der wahre Lindianer sich betreten zur Seite.

 

Die Kunstfigur aber, in der der wahre Udo steckt, der auch nicht mehr viel anders tickt, verträgt das. Lindenberg, als Sänger limitiert und als Musiker weder Bach noch Beethoven, war ganz oben und ganz unten und am Ende doch immer wieder da. In den engen Spandexhosen, mit dem Gehrock, das Mikrophon wirbelt an der Schnur herum und der Mund, unverwechselbar wie der von Mick Jagger, nölt etwas von "Neugier-Detektiv" und "Fredies aus der Berufspolitik" und wie er mit seinen "Jungs aus der Phantasterei" da ganz kräftig dagegenhalten werde.

 

Wer Lindenberg für eine Karikatur hält, unterschätzt den großen alten Mann der deutschen Popmusik. Hinter den flotten Sprüchen im selbstausgedachten Kinderzimmeridiom versteckt der Freizeitmaler und Kräuterzigarettenraucher messerscharfe Analysen der Gegenwart. Er erlebe derzeit eine "Zeit von leichter Ablenkung und großer Müdigkeit, wo das Make Up wichtiger ist als der Song", analysierte Lindenberg vor Jahren. Die Medien hätten da "ein Leichentuch der Unbildung über das Land gezogen, unter dem schon ein deutscher Liedtext im Radio als intellektuelle Zumutung" gelte, nuschelt er, als lasse sich der gallebittere Inhalt leichter schlucken, wenn er ihn beiläufig verabreicht.

 

Ein Intellektueller im Zwirn des Eckenstehers, ein Philosoph, getarnt als Unterhaltungskünstler. Lindenberg, der bis jetzt jeden Sonntagabend die Titelmelodie des "Tatorts" in die deutschen Wohnzimmer trommelt, hat mit allen zusammengearbeitet, die in der deutschen Rockmusik Rang und Namen haben. Er spielte mit Inga Rumpf, er entdeckte Ulla Meinecke, entwarf mit Peter Zadek die "Dröhnland-Sinfonie", kandidierte mit der Panik-Partei für den Bundestag, vertonte Bert Brecht, protegierte Nena, half den Prinzen, sang mit Nina Hagen und Peter Maffay.

 

Wer im Lande Deutschrock wandert, findet allenthalben Wegzeichen, die zu Lindenberg weisen. Die Lederjacke, die er einst Erich Honecker schenkte, liegt im Museum in Rostock. Die Rechte an wunderlichen Kunstfiguren wie "Rudi Ratlos" und "Bodo Ballermann" sprach ihm erst letztes Jahr ein Gericht endgültig zu. Und sein Hit "Alles klar auf der Andrea Doria" führt inzwischen, folgt man der Fährte bis ans Ende direkt nach Sachsen-Anhalt. "Gottfried heißt der Knabe da hinten am Klavier, für jede Nummer Ragtime kriegt er 'nen Korn und n Bier", sang Lindenberg 1973. Damals spielte Gottfried Böttger noch das Panik-Klavier im Panik-Orchester. Inzwischen lehrt der gebürtige Hamburger, der sich später dem Jazz verschrieb, als Professor für Informatik in Köthen.

 

Hinterm Lebenswerk geht's weiter, das hat auch der Jubilar Lindenberg sich und der Welt gerade erst bewiesen. Waren die 90er - abgesehen von der Erfüllung seines alten Traums, einmal in Ostdeutschland spielen zu dürfen - kein gutes Jahrzehnt für ihn gewesen, so ließen sich die 2000er noch schlechter an. Udo Lindenberg schlüpfte nach einer Ära eher chansonlastiger Werke erst in die Rolle des "Exzessors" (Albumtitel). Dann wollte er wieder der "Panikpräsident" sein. Doch das Fanvolk verweigerte die Gefolgschaft. "Lindi", wie sich Lindenberg ohne Scheu vor Peinlichkeiten selbst nennt, hatte den Kontakt zum Zeitgeist verloren, so schien es. Nicht ihm selbst allerdings. Von tief unten im Karriereloch sah Lindenberg "völlige Verblödung" grassieren. Ringsum nur "Quotenjägerei und Casting-Quatsch". Also nichts, was einen Rock'n'Roller erschüttern könnte. "Ich bin ein alter Optimist, ich habe schon solche Zeiten erlebt." Irgendwann haben die Leute wieder genug, irgendwann kehren sie um.

 

Das war, als Udo Lindenberg seinen vierten oder fünften Frühling erlebte. 30 Jahre nach dem ersten Alkoholentzug, 21, nachdem ihm Heiner Müller ein Gedicht mit dem Namen "Phönix" gewidmet hat, und 19 Jahre nach dem ersten Herzinfarkt ist Udo wieder da. Stark wie zwei (Plattentitel), ein Hitgigant, der Charts stürmt und die größten Hallen füllt.

 

Die Stasi hat es immer befürchtet. Lindenberg sei im Grunde ein Künstler, der Gutes wolle und das sogar mit "künstlerischer Meisterschaft" verfolge, bescheinigt ihm ein MfS-Gutachten. Viele seiner Lieder, etwa über Drogenprobleme oder die faschistische Gefahr in der BRD, seien "für unsere Bestrebungen ausnutzbar", heißt es. Alle anderen müssten "für die Popularisierung in der DDR gesperrt werden".

 

Rein durfte er nicht mehr, so sehr er auch bettelte. Am 10. November 1989 aber hat Lindenberg, der gerade in München ist, morgens den ersten Flieger nach Berlin genommen. Er trägt einen falschen Bart, eine Mütze und ist geschminkt, um nicht erkannt zu werden. Er sieht die Stadt, die seit einem Tag keine Mauer mehr hat, nur durch einen Tränenschleier. Es ist vielleicht der Höhepunkt seiner Karriere. "Freudentränen", nuschelt Lindenberg, "so breit war ich noch nie."

Quelle: mz-web, 14.05.11