Blue Flower

"Man muss da easy durchfedern"

Die "Welt" wird 70 – und bald ist es auch bei Udo Lindenberg so weit. Dabei war er vor zehn Jahren fast schon tot. Seitdem, schreibt der Rockstar, wird sein Leben jedes Jahr ein bisschen geiler.

70 Jahre alt werden – das kann ja jedem mal passieren. Bei mir ist es angeblich demnächst auch so weit, Mitte Mai oder so. Hat man mir erzählt. Aber meinen eigenen Geburtstag feiere ich eigentlich nicht so.

Bei Partys von anderen jedoch bin ich immer gern dabei, da singe ich dann auch einen, und hoch die Tassen, muss ja sein – in eigener Sache aber brauche ich keinen offiziellen Festtag, so ein Datum zum Ausflippen, die Partystechuhr, das ist nicht mein Ding, im Gegenteil: Feiertage sind für mich sowieso immer schon die härtesten Tage gewesen, da habe ich so ein Kindheitstrauma – Sonntage waren für mich das Schlimmste. In die Kirche und dann Schaufenstergucken und alles zu und nix los und alle so still und andächtig, und der Vater macht so 'ne Runde Strafschweigen beim Mittagessen und so, fürchterlich.

Deshalb mache ich das genau umgekehrt, seit ich weg bin von zu Hause, so mit 15 bin ich ja schon losgezogen: Werktage sind Feiertage, also Tage, an denen gefeiert wird, und an den Offiziellfeiertagen arbeite ich, pushe mein Werk voran, das sind meine produktivsten Tage eigentlich. Bin aber eh nicht so der Kalendermann, hab ich mich irgendwann verabschiedet davon.

Alles Gute zum 70. – das Likörell "Die Welt" von Udo Lindenberg Foto: Udo Lindenberg

 

Ich empfinde ja auch die Musik nicht als Arbeit, Plattenaufnehmen und Konzerte, das ist ja Partytime, und wenn man ehrlich ist, schon erstaunlich, dass man dafür gute Knete kriegt, denn eigentlich gehe ich ja nur meinen Hobbys nach. Auch die Malerei und alles andere, was ich so mache – ich habe nie das Gefühl, das ist jetzt Maloche. Man muss da locker und easy durchfedern, darauf haben die Leute auch einen Anspruch, dass man es stellvertretend für sie locker nimmt, das Leben, immer, wenn es geht. Und ganz wichtig: sich selbst nicht immer so ernst nehmen.

Und so feiere ich eigentlich jeden Tag, 364 Tage im Jahr Party, und am eigenen Geburtstag dann kurz aussetzen, da bin ich ganz Trommler und kenne die Kraft des Breaks, ne? Synkopen des Lebens, yeah. Und dann am nächsten Tag: wieder voll auf die eins, godong, tschak. Man hat ja auch nebenher noch bisschen was zu tun: Ich werde an meinem Geburtstag dieses Jahr proben auf Schalke, im Stadion in Gelsenkirchen, drei Tage später ist da der Auftakt meiner Tournee, und da muss ich natürlich kurz mal das Gemäuer warmsingen und ein paar Testflüge machen und so, damit die Show dann richtig knallt.

Klar, paar Eierlikörchen werden sich nicht vermeiden lassen auch an dem Tag, und für die Balladen zwei Tässchen Whisky oder so, Stimme frischgurgeln, aber eben gezieltes Trinken und nicht mehr so wie früher nach der Mengenlehre, und dazu 70 Zigarren auf 'ner Torte auspusten oder mal kurz durchs Mohnfeld neben dem Stadion spazieren, könnte passieren, aber mehr so nebenbei, mal kieken, easy, flexibel, coole Sorte – ist ja noch 'n paar Tage hin. Ich feiere das Publikum und meine Band, also alle Paniksympathisanten – und ich proste meinen Eltern im Himmel zu, durch die Wolken, Gustav und Hermine: auf euch, danke.

Unter uns gesagt: Das dauerbreite Schluckspechtfeiern habe ich ja durchaus paar Jährchen lang auf Vorrat gemacht, das reicht ja dann auch, ich hatte ja so 'nen kleinen Partytime-bedingten Durchhänger, so zehn, 20 Jahre lang, ging aber nicht anders, denn als Sänger musst du ja auch was zu erzählen haben, ohne Drama kein Comeback, die Leute wollen ja auch bisschen mitzittern, das ist ja wie im Kino, der Held muss auch mal vom Pferd fallen, und wenn er dann durchkommt, freut man sich, man freut sich aber umso mehr, wenn es echt knapp war zwischendurch für ihn.

Einfach nur: Mir geht es gut, und alles läuft – das ist ja keine Story, mit der sich die Leute identifizieren können, das langweilt ja, nee, als Künstler muss man auf die ganz hohen Berge steigen und in den ganz tiefen Underground sich trauen, weit rausschwimmen und so, immer wieder los, ich habe immer 'ne Zahnbürste und 'n paar Zigarren dabei und 'n paar Mark, mehr brauchste ja praktisch nicht – und ein Visum für unerforschtes Land.

Mein Hutmodell heißt so, und das ist auch mein Motto: open road. Immer wieder los, unterwegs sein, nicht absitzen und festgetackert da irgendein Katalogleben imitieren, keine Biografie von der Stange, nee, man muss immer wieder raus und von vorn anfangen, als experimentelle Wildente.

70 Jahre, o. k. Was haben wir jetzt? Ich mache ja bei der irdischen Zeitrechnung seit 'nem Weilchen nicht mehr mit, aber ich glaube, 2016, oder? Gibt einen alten Song von mir, da kommt mein und euer Geburtsjahr drin vor:

Im Sommer 46 kam ich als Kind zur Welt

Ich fiel direkt vom Himmel auf ein D-D-Doppelkornfeld

Guter Jahrgang also, '46, ne? 1946 das Licht der Welt erblickt, ihr auch, als Zeitung, "Die Welt" kam zur Welt, Tick vor mir wart ihr schon am Start, sechs Wochen Vorsprung. Licht der Welt, wobei, auch ziemlich schnell die Schattenseiten erst mal, ist ja klar, war 'ne triste Zeit, eng und miefig, das Schweigen über die Schandtaten dieses Landes, zwölf Jahre Nationalsozialismus und der komplette humanistische, ethische und moralische Bankrott, Deutschland hatte sich ja wirklich komplett aus der Völkergemeinschaft rausgemordet, es ist eine große Integrationsleistung der anderen Nationen, dass sie Deutschland danach noch mal eine Chance gegeben haben, das vergessen leider heute viele.

Da sprach ja eigentlich wenig dafür – bis auf: eben die Menschlichkeit. Und diese Chance ist ja dann auch ein Auftrag und eine Verpflichtung.

Für uns Nachkriegskids hieß das: Aufmucken, gegen das Schweigen anfragen, Krach machen, ich habe da buchstäblich gegen angetrommelt, mit den Besatzern Jazzmusik gemacht, Lucky Strike und Lucky Punch, manchmal auch 'n lecker Punsch, Biersuppe oder was so wegmusste, Kaugummi und let's go, das war Völkerverbindung auf der Straße. Und so ging das los.

Man wollte raus aus der Kleinstadtenge, Gronau in meinem Fall, und mein Ticket war die Musik. Klar, die Protestkultur hat sich erst mal an den großen Vorbildern orientiert, zwar ist Musik selbst international und braucht keinen Übersetzer, das ist ja das Tolle, mit Musik kannste dich überall auf der Welt direkt ins Herz der Menschen spielen, aber Verkehrssprache war natürlich Straßenenglisch. Die deutsche Sprache war ja versaut, damit wollte man nichts zu tun haben, andererseits musste man die ja auch wieder sauber singen und vom Schrott befreien, da klebte ja Blut dran, und da wurde in den 50ern ja erst mal Schmalz drübergekleistert, das musste ja alles wieder runter.

Als wir anfingen, gab es ja an deutschsprachiger Musik fast nur so Schlagermist, dem musste man ja was entgegensetzen. Tja, und dann haben wir das eben gemacht. Straßensprache, direkt von der Baumschule des Lebens, da hab ich meinen Abschluss gemacht, alles, was ich kann, habe ich auf der Straße gelernt, beim Rumstromern, das ist noch heute so, ich mache Straßenkunst. Denn genau da fliegen die Texte rum, da gehen die Genieblitze nieder – zu Hause sitzen und warten, bis der highlige Geist anklopft, das bringt nix.

Kennt ihr ja auch, bei der Zeitung: Rausgehen, mit allen Leuten sprechen, mit Ganoven und Staatschefs – und manchmal ist das ja auch dasselbe. Man muss sich überall auskennen, überall mal reingucken, Detektiv sein und Spion, und so ist Plattenmachen eigentlich ganz ähnlich wie Zeitungmachen: Von Weltpolitik über Liebe muss immer alles drin sein, alles, was unser Leben ausmacht, bis hin zum Sport, und sei es nur der demokratische Breitensport an der Bar.

Locker, easy, aber wenn es drauf ankommt, schon auch Klartext, keine Hieroglyphen: Kein Krieg, Menschenrechte für jeden, totale Gleichberechtigung sowieso – und, ganz wichtig, Trennung von Staat und Kirche, Religion ist Privatsache, damit soll keiner keinen belästigen, auch zum Beispiel kein Kirchenglocken-Radau bitte am frühen Morgen, wenn man seinen Kater ausschlafen will. Da höre ich doch lieber schön laut "Hells Bells", abends dann.

Mein Freund Stuckiman ist ja so ein bisschen mein Gesamtwerk-Teleprompter, der wohnt gerade ein paar Zimmerchen weiter hier im "Atlantic", und der kennt meine eigenen alten Texte oft genauer als ich selbst, der meinte vorhin, 70 Jahre alt sein, das käme ja auch in einem ganz alten Song von mir vor, hatte ich total vergessen, stimmt aber:

Ich mach für dich 'n Fanklub auf

Jetzt bist du um die 70 und immer noch gut drauf

Ich freue mich, 70 zu werden, denn die Alternative wäre ja: nicht 70 werden. Gab ja jetzt ein paar sehr bedauerliche Abflüge von großen Kollegen mit 69, Lemmy, Bowie, Henley, das haute schon rein.

Vor ziemlich genau zehn Jahren, als ihr 60 wurdet, da lag ich im Krankenhaus, Entgiftungsabteilung, und da standen zwei sehr hübsche junge Zivis an meinem Bett und weinten. Sie schnieften: Ey, Udo, wenn du so weiterschleuderst, dann kratzt du nächste Woche ab, das kannste echt nicht machen! Du kannst uns doch hier nicht hängen lassen, du bist doch unsere Panik-Nachtigall, du musst doch weiterzwitschern und das Niveau in den Charts oben halten, wir brauchen deine Texte zum Überleben, jetzt werd mal nüchtern und mach endlich wieder Volltrefferplatten und geile Shows!

Und da sagte ich, o. k., Jungs, geht klar, und dann hab ich mir die Schläuche einfach rausgerissen, Tesafilm drüber – und bin raus aus'm Hinterausgang, bin zurück ins "Atlantic" gelatscht und hab einen Deal mit mir selbst gemacht: cleane Zeiten, nur noch gelegentliche alkoholische Kurzurlaube, als Sportskanone meinen Body wieder bühnenfit machen, und die Erfahrungen der harten Zeiten poetisch nutzen, als inhaltlichen Zündstoff für so 'ne Art Comeback. Und seither wird es eigentlich jedes Jahr wieder geiler, mein Leben, und die Medizinalforschung wundert sich, ich scheine in der Lotterie des Lebens das große Zeitlos gezogen zu haben.

Also: 70 werden ist geil. Prost, Leute, wir machen den Klub der Hundertjährigen auf, volle Rock-'n'-Roll-Power, für unsere offene, freie, supertolerante, bunte Republik.

Quelle: Welt.de, 02.04.16