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Kategorie: aktuell

Die Wucht großer Arenen im Klosterhof

Udo Lindenberg hat mit einem starken Konzert in Calw seine Tournee beendet. Dabei hat er die Hermann-Hesse-Medaille der Stadt erhalten und die Panik-Preisträger geehrt.

Den ganzen Juni über hat Udo Lindenberg mit gigantischen Stadionshows die Menschen in der von ihm ausgerufenen „Bunten Republik Deutschland“ verzückt. Das besondere Kunststück dabei: Zwischen aberwitzigen Fluggeräten, riesigen Video-Leinwänden und aufblasbaren grünen Megasocken ist es dem gerade 70 Jahre alt gewordenen Rockstar gelungen, eine berührende Intimität in deutschen Fußballstadien zu vertäuen. Am Samstag nun in Calw, zum Abschluss seines diesjährigen Konzertschaffens, stellte Lindenberg eindrucksvoll unter Beweis, dass die optische Opulenz seiner Stadionkonzerte – wenn auch beglückend schön anzusehen – keineswegs zwingend erforderlich ist, um die entwaffnende Präsenz des Mannes und der Marke Lindenberg zur Entfaltung zu bringen. Beim von ihm ins Leben gerufenen Hermann-Hesse-Festival im beschaulichen Kloster Hirsau verzichtete Deutschlands wirkmächtigster Comeback-Bewältiger auf fliegende Untertassen und Dampf spuckende Weltraumbahnhof-Lotsinnen. Nur mit Klang, Licht, einer agilen Tänzerin und vielen immer wieder neu zusammengemischten Knäueln aus hoch inspirierten Spitzenmusikern bewerkstelligte Lindenberg jetzt auf der Bühne des Calwer Klostersommers sein intimes Stadion-Kunststück in der umgekehrten Variante: Im seit langem ausverkauften Klosterhof, der gerade mal 2200 Fans fasst, entfesselte Lindenberg die lustvolle Wucht der ganz großen Arenen.

Denn musikalisch macht Lindenberg keine Abstriche: wechselt vergnügt eine pralle Bläsertruppe ein, wenn ihm danach ist, harmoniert mit drei fulminanten Co-Sängerinnen, beschäftigt drei Keyboarder gleichzeitig und lässt seine alte Gitarren-Kumpanin Carola Kretschmer zwei Songs lang mitspielen und energisch explodieren. So konsequent verschwenderisch jenseits aller betriebswirtschaftlich naheliegenden Routine musiziert hierzulande sonst niemand. Sein Panikorchester schäumt zum Ende der Tour fast über vor Spielfreude, während Udo Lindenberg selbst in jedem einzelnen Augenblick mit jeder Faser seines Körpers hinreißend cool und emotional zugleich mitteilt, dass er just in diesem Moment, genau an diesem Ort, exakt das tut, was ihm gefällt – und was er gleichzeig für wichtig und richtig hält.

 

Lindividualität als Lebenselixier

In seinem leicht gestrafften, dafür mit Hesse-Huldigungen angereicherten Stadion-Programm führt er von der „Odyssee“ über „Das Leben“ und den „Horizont“ bis zur Glücksballade „Eldorado“ – lauter vor Energie schier berstende Liebeserklärungen an das Leben, vorgetragen mit unentrinnbar ansteckender Leidenschaft. „Udopium für alle“ fordert und verteilt Lindenberg zugleich, während er von Hesses Menschlichkeit zur traurigen Notwendigkeit des eigenen Antikriegssongs „Wozu sind Kriege da?“ überleitet. Der Kinderchor geht ans Herz, während Lindenberg bei seiner Tour-Derniere neue, hinreißende Phrasierungen ausprobiert, mal bellt, mal schnaubt, mal röhrt - passend zu seiner lodernden Hesse-Exegese, die „den Weg der heiligen Individualität oder Lindividualität“ beschwört. Es wirkt unfassbar aufrichtig, als Lindenberg am Ende dieses grandiosen Konzertes mit Schwerpunkt auf seinem starken neuen Album „Stärker als die Zeit“ verkündet: „Es war die schönste Tour meines Lebens, total eintätowiert in meine Seele. Und hier in Calw der Höhepunkt. Bei euch in Calw und in Gronau.“

In Gronau, seiner westfälischen Geburtsstadt, wurde Udo Lindenberg vor wenigen Tagen zum Ehrenbürger ernannt. Im Klosterhof von Calw nun zeichnet ihn Oberbürgermeister Ralf Eggert (von Lindenberg geduzt wie alle anderen) mit der Hermann-Hesse-Medaille der Stadt aus. Lindenberg habe sich um das Ansehen der Stadt Calw besondere Verdienste erworben, als „herausragender Botschafter von Hermann Hesse“, sagt der Oberbürgermeister. „Yeah“, sagt der Rockstar mit Hut, als kurz vor seinem eigenen Konzert der Panikpreis-Teil des Abends zu Ende geht.

Der Leidenschaftspräparator in seinem Element

Denn Lindenbergs Engagement ist eben keine Attitüde: Seine seit zehn Jahren in Calw ansässige Udo-Lindenberg-Stiftung fördert Projekte zur Alltagsbewältigung in Afrika ebenso wie junge Songwriter im deutschsprachigen Raum. Vor dem Konzert des Panikpaten traten am Samstag zunächst die Träger des diesjährigen Panikpreises auf, die neben ihrer eigenen Kreativität unter Beweis stellten, wie nachhaltig Udo Lindenberg seit den frühen Siebigerjahren den Weg für deutschspachigen Pop geebnet hat: Melanie Simunovic, die den Sonderpreis für die beste Hesse-Vertonung erhält, bedient sich der emotionalen Tiefe, die Lindenberg im hiesigen Rock wieder salonfähig gemacht hat. Die drittplatzierten Hamburger Gitarrenrocker von der Band Kraus lassen mit aller verbaler Selbstverständlichkeit Wolken, die „umfallen“ auf den „Bürgersteig knallen“; die Tübinger Liedermacherin Sarah Lesch weiß mit dieser punktgenauen Direktheit, die Lindenberg im hiesigen Songwriting eingeführt hat: „Schmerz macht Soldaten aus Handwerkern und Poeten“. Und die Panikpreis-Spitzenreiter, ein Elektropop-Quartett namens Planetarium, ertüftelt Sounds mit Lindenbergscher Hingabe. Der Rockstar überreicht der Band einen vergoldeten Hut, und als zwei Stunden später all die vor Begeisterung glühenden jungen Musiker mit dem sensationellen Leidenschaftspräparator Lindenberg gemeinsam auf der Bühne wogen, muss man sich um die Zukunft des Pop keine Sorgen machen: „Candy Jane“ wird jetzt gegeben, überschwänglich wuchtig, verspielt und doch zielgenau. Der Schauspieler Joachim Krol, der gerade noch Hesse rezitiert hat, tanzt jetzt, überhaupt tanzen alle, wobei man das Gefühl hat, dass sich der Meister selbst immer am ausgelassendsten von allen zu sich selbst hinbewegt, wenn seine dünnen Beine den Rhythmus seiner opulenten Musik ertasten.

Er setzt in Calw noch einmal Maßstäbe in Sachen Eindringlichkeit. Er sagt in der Geburtsstadt des Dichters, dass Hermann Hesse ihm seit Jahrzehnten Energie einflöße. Aber eigentlich glaubt man an diesem Abend, es handle sich bei dem Rockgenie um eine Art musikalisches Perpetuum Mobile, das sich ohne Ermüdungserscheinungen selbst anfeuert, selbst überzeugt, selbst beglückt. Die Intensität hat einen um, mit der sich Lindenberg jeden Augenblick aufs Neue sein nach langen alkoholverschleierten Jahren ungefähr vor einer Dekade mühsam wieder zurückerobertes Leben im Rockolymp krallt. Der Überschwang, mit dem er jeden Moment auskostet, berührt einen zutiefst. Dabei ist Lindenbergs fulminante Panikparty nie Selbstzweck, sondern Ausdruck einer Haltung, die keine Kompromisse zulässt: Als er vor kurzem die Fußballstadien der Republik beglückte, sprach der AfD-Vize Alexander Gauland dem Innenverteidiger Jerome Boateng die Nachbarschafts-Beliebtheit ab, und Lindenberg demaskierte Gauland in seinen Ansagen. In Calw mischt er sich zwischen zwei Songs weiter östlich auf der Landkarte ein: „Was sagte Atatürk: Trenne Kirche und Staat!“ Sein Widerstand gegen die politischen Rechtsaußen hat ohnehin einen festen Platz in seinem Repertoire: Sein Song „Denn sie brauchen keinen Führer“, auch schon wieder 16 Jahre alt, klingt heute ehrlich wütend und beklemmend aktuell.

Lindenbergs künstlerisches Betätigungsfeld geht inzwischen weit über Deutschland hinaus: Als die unbändige Wildheit seines Songs „Candy Jane“ verhallt, wird er ein bisschen melancholisch. Letztes Konzert in diesem Jahr. Aber man werde sich wieder treffen. Erstmal in Studios, „weltweit“. Dann zelebriert er innig wie ein Gebet sein Lied „Eldorado“, in dem davon die Rede ist, dass die Begegnung mit seinen Fans auf der Bühne für ihn der stärkste Kick überhaupt sei. Zum Schluss noch ein Versprechen: „Wir sehn uns ganz bald wieder!“ Darauf freuen wir uns!

Quelle: StZ, 31.07.16