Blue Flower

Neues Buch, neue Platte, jetzt auch noch ein Musical:
Fünf Thesen, warum Udo Lindenberg das Maskottchen von Hamburg ist.

1. Udo ist der neue König der Löwen und schlichtet zwischen Hamburg und Berlin

"Ich will meine Träume nicht nur träumen, ich will sie auch erleben", singt ein Republikflüchtling in Hinterm Horizont, während er im Heißluftballon von Ost- nach Westdeutschland schwebt. Das Musical mit Songs von Udo Lindenberg ist gerade im Operettenhaus an der Reeperbahn angelaufen.

Der Song heißt Daumen im Wind, er ist von 1972. Im Text geht es um einen langhaarigen Tramp, der sich nicht an die Kette eines bürgerlichen Lebens legen lässt. In den Achtzigern, als das im Westen schon etwas veraltet war, entfalteten Udos Songs in der DDR systemkritische Power. Dort liebten sie ihn dafür, dass er Honecker "Honey" nannte und ihm eine E-Gitarre schenkte (Slogan: "Gitarren gegen Knarren").

So wurde Udo zum ersten gesamtdeutschen Rockstar – und in Hinterm Horizont ist das nun auf der Reeperbahn knalllbunt inszeniert und kanonisiert: Stasi-Schlapphüte, FDJ-Girls, Volkspolizisten und Rockertypen machen Formationstanz zu den großen Lindi-Hits. Nebenbei beendet der Sänger auch die Städtefehde zwischen Hamburg und Berlin. Fünf Jahre lang war das Musical die halb offizielle Touri-Operette der Hauptstadt, jetzt gehört sie zum Portfolio der Kernbranche der Hamburger Unterhaltungskultur. Udo – der neue König der Löwen.

 

2. Udo ist ein Clown, bei ihm darf Coolness massenkompatibel sein

"Du bist ’ne coole Socke, ey, genau so muss das sein", singt Udo Lindenberg auf seinem aktuellen Album Stärker als die Zeit. "Du bist so cool, ey, hinter dir fängt es an zu schneien." Subtiler Humor? Für Udo nicht die Stillage der Wahl. Bei dem früheren Jazztrommler muss es plakativ sein. Das zeigt sich schon beim Outfit: Sonnenbrille, Schlapphut, Zigarre. Pistolero meets Punk.

Im Musical wird ein Zettel auf den Bühnenhimmel projiziert, darauf die Notiz, mit der sich der junge Lindenberg ermahnte, zum Star zu werden. "David Bowie hören", ist da unter anderem zu lesen. Der Rockstar als nicht weltliche Figur, das hat Udo von Bowie gelernt. Bloß: Nicht androgyn schillernde Kunstfiguren wie Ziggy Stardust bevölkern Lindenbergs Rocktheater, sondern eher grobschlächtige und ein bisschen infantile Gestalten wie Johnny Controlletti (Mafiaboss), Bodo Ballermann (Fußballer) oder Votan Wahnwitz (Dirigent). Udo hat immer auch Kasperltheater gemacht. Coolness ist gerade keine Sache von Unnahbarkeit und raffinierten Gesten, sondern eine Mischung aus Hemdsärmeligkeit und Nähe. Jeder kann mitlachen und darf sich cool fühlen. Ein bisschen.

3. Der Slang von Udo wirkt nur gestrig, in Wahrheit ist er hochaktuell

In den Siebzigern erfand Lindenberg seinen Easysprech. Damals war diese Nuschel- und Provorhetorik als Aufstand gegen das arbeitsame, anständige Spießerdeutschland gemeint. Doch gerade heute, in Zeiten grassierender Selbstoptimierungszwänge, ist Udos Jargon hochaktuell: Flexibel bleiben, locker durchstarten, easy sein und trotzdem volle Power geben – wer will das nicht?

Auch der Umkehrschluss gilt: Der Kapitalismus hat sich die zentralen Begriffe des Udo-Universums angeeignet. "Du gehst deinen Weg, ob geradeaus, schräg, das is’ doch egal, du machst dein Ding" heißt es in seinem Comeback-Hit Ich mach mein Ding aus dem Jahr 2008. Udo Lindenberg singt Ermutigungslieder für die vom beschleunigten Kapitalismus Gehetzten, er selbst entspannt sich im Atlantic. Von nichts kommt nichts.

4. Udo ist der letzte Nonkonformist, und das bis ins hohe Alter

Bis heute lebt Lindenberg antibürgerlich: Er beginnt den Tag erst am späten Nachmittag, geht morgens schlafen. Seine Entourage besteht aus einer Schar skurriler Typen, die er seine "Familie" nennt – Dinosaurier eines Rock-’n’-Roll-Lifestyles, der längst ausgestorben ist.

Untrennbar mit Udo verbunden: das Bekenntnis zum ausschweifenden Alkohol- und Drogenkonsum. Dass er "zwanzig Jahre suff und weg" war, wie er selbst textete, und keiner mehr an ein Comeback des aufgedunsenen Altrockers glaubte, auch das gehört zum Lindenberg-Kult. In seiner biegsamen, trotz heutiger Alkoholabstinenz immer angetrunken wirkenden Lässigkeit ist er das Gegenbild zum kernig-sportiven Stadionrocker der Gegenwart.

5. Udo wirkt therapeutisch und leitet die Betty-Ford-Klinik von Hamburg

Manch ein Gestrauchelter hat im Kreise der Lindenberg-Family Beistand, Ruhe und neuen Mut gefunden. Womöglich sogar Heilung. Dass der "Panik-Doktor" mit der zartrosa Brille und der Spezialisierung auf die Rettung von Drogenwracks nicht nur ein Darsteller im Udo-Rocktheater ist, das bezeugt der jüngste Neuzugang der Familie: Der Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre, jahrelang vom Kokain gepeinigt, ließ sich von Udo höchstpersönlich spirituell (und sicher auch verhaltenstherapeutisch) unterweisen.

Das Hotel Atlantic als Betty-Ford-Klinik mit Udo als Chefarzt.

Der Entzug hat funktioniert, mit Panikherz hat Stuckrad-Barre seinem Meister in diesem Jahr hingebungsvoll einen autobiografischen Roman zu Füßen gelegt. Gerade hat der Autor zudem mit Udo Fröhliche das erste "Lindenberg-Lexikon" veröffentlicht. "Welcher Art auch immer unsere Traurigkeit gerade ist", heißt es darin, "wir hören Udo und wissen uns verstanden."

Nicht nur Stuckrad-Barre liebt Udo. Der Altrocker hat mit Clueso gesungen und mit Jan Delay, das Lindenberg-Lexikon wird präsentiert von Bild und Porsche. Alle können sich einigen auf Udo. Und auch wenn Panikpräsident von 2003 das schlechteste Album seiner Karriere war: Vielleicht ist es Zeit, über eine Kandidatur zu sprechen, falls es doch nichts wird mit Steinmeier oder wer sonst noch im Gespräch ist für die Bühne des Bellevue.

Quelle: Zeit-Online, 03.12.16