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Kategorie: aktuell

Quietschbunte Nachdenklichkeit

Udo Lindenberg entsteigt abermals dem Jungbrunnen: das erste seiner zwei Konzerte in der Schleyerhalle zeigt den deutschen Rockmusiker in Bestform.

Stuttgart - Udo Gerhard Lindenberg aus dem westfälischen Gronau hat, so erzählt er am Freitagabend in der Stuttgarter Schleyerhalle, auch schon deshalb nur recht kurz die Schule besucht, weil ihm schon als Jugendlicher klar gewesen sei, dass nur Musik sein Ding sei. Rund sechzig Jahre nach Beginn seiner künstlerischen Laufbahn ist offensichtlich, dass er sich diesen Kindheitstraum sattsam erfüllt hat. Er hat ihn sogar überfüllt, denn der 73-jährige erlebt derzeit seine x-te Auferstehung aus dem musikalischen Jungbrunnen: vor drei Jahren ist er im Stuttgarter Fußballstadion zu Gast gewesen, vor zwei Jahren „nur“ für einen Auftritt in der Schleyerhalle, und jetzt gastiert er gleich an zwei ausverkauften Abenden vor weit über zwanzigtausend Besuchern in Stuttgarts größter überdachter Konzertarena.

 

Lebenspralle Revue

Am ersten dieser beiden Abende zur Würdigung eines erstaunlichen Lebenswerks feiert Udo Lindenberg ein Hochamt, brennt ein Feuerwerk ab und lässt die Puppen tanzen, wobei alle dieser drei Redensarten wortwörtlich zu nehmen sind. Der Sänger mit der Nuschelstimme hat seine Band mit vielen alten bis sehr alten Weggefährten dabei, nebst kleinem Bläsersatz, Backgroundsänger und Backgroundsängerinnen sowie für eine fette Soloeinlage die 70-jährige (!) Gitarristin Carola Kretschmer, vormals bekannt als Thomas Kretschmer. Dazu gesellen sich ein üppiger Kinderchor, ein Eisbär sowie reichlich weiteres Personal, allesamt machen sie – wie bei Udo Lindenbergs Shows gewohnt – aus einem Konzert eine lebensprall quietschbunte Revue.

Auf der gigantisch großen Videowand schwebt aus den Tiefen des Universums zum Auftakt ein Flugzeug ein, eine Treppe wird an die Leinwand geschoben, in der sich mirakelhaft nun eine Tür öffnet, aus der Lindenberg leibhaftig das Flugzeug verlässt. Hernach werden die Kostüme im Minutentakt gewechselt, zitatenreich lebt hier Seemannsromatik, dort der Revuepalastglanz des alten Sankt Pauli auf. Zwischendrin folgt eine Nummer, in der die Begleiter und Begleiterinnen in Nonnen- und Priesterornat schlüpfen, Lindenberg dazu die Zeilen „süße Engel, Höllenbiester, es gibt aber auch Schweinepriester“ singt und auch ansonsten eine Message zu verbreiten hat, von der gleich die Rede sein soll. Ein Boxring wird kurz darauf an der Spitze der weit ins Publikum auskragenden Bühne aufgebaut, mit riesigen Pappmachéköpfen kämpfen darin Putin und Trump gegeneinander, flankiert von Wrestlingstaffage, so herrlich überkandidelt wie diese gesamte Show.

Politische Popmusik

Die Gottesmänner und –frauen lassen alsbald die Hüllen fallen und tanzen sich küssend in knappen Höschen umher, sie dienen Lindenberg als Plädoyer für sexuelle Selbstbestimmung und Diversität. Trump und Putin nutzt der Sänger für einen Appell gegen Kriege, Rüstung und Militarismus. Als die Begleiterinnen femengleich kostümiert auf der Bühne erscheinen, lobt Lindenberg das zivilgesellschaftliche Engagement als solches, und als er Grundgesetzartikel verlesen lässt, hat er diese durch ein paar Ergänzungen in seinem Sinne verbessert. Udo Lindenberg sieht sich, bei allem Bühnenklamauk und allen öffentlichkeitswirksamen Eskapaden seines Rockstarlebens, vielleicht mehr denn je als ein politischer Künstler, was in Zeiten wie diesen ja eine ebenso rare wie notwendige Tugend im Popmusikgeschäft geworden ist.

Hut ab, möchte man allein dafür schon sagen, doch seine schon ikonografische Kopfbedeckung nimmt Udo Lindenberg die ganzen zweidreiviertel Stunden dieses in jeder Hinsicht ausufernden Konzerts nicht ab. Die Sonnenbrille lupft er bisweilen, der Blick wird so frei auf das vom Leben durchaus gezeichnetes Antlitz dieses Mannes, der ansonsten drahtig, elastisch und topfit wirkt, obwohl der gelernte Kellner – wenn alles ganz anders gelaufen wäre – seit acht Jahren von der Bundesrepublik Deutschland eine Rente kassieren würde.

Rente? Nein Danke!

Das Wort Ruhestand scheint aber segensreicherweise so gar nicht im Vokabular des außerordentlich leutseligen und redefreudigen Rockmusikers vorhanden zu sein. Zwar hat er seit seinem siebzigsten Geburtstag kein neues Album veröffentlicht, aber doch ein Repertoire von in 48 Jahren eingespielten 37 Alben im Rücken. Davon zehrt er in der Schleyerhalle bestens, neben sehr vielen seiner teils sehr originell variierten Klassiker – von der Lou-Reed-Adaption in „König von Scheißegalien“ bis zur Akustikgitarrenistrumentierung in „Cello“ – hat er auch fast schon vergessenes Repertoire zu bieten, etwa das launige „Ich träumte oft davon ein Segelboot zu klauen“.

29 Songs ziehen in diesem Panoptikum so vorüber, von seiner reichlich routinierten Band klangstark in Szene gesetzt. Und zur allseitigen Verblüffung kommt als Überraschungsstargast des Abends plötzlich Otto Waalkes auf die Bühne spaziert. Mit seinem alten WG-Mitbewohner intoniert Lindenberg ein Minimedley aus Stings „Englishman in New York“ und „Highway to Hell“ von AC/DC, und besser als in diesem einzig schwachen Moment des Konzerts hätte sich gar nicht offenbaren können, was Udo Lindenberg nach dem Tod Karl Lagerfelds zum Nimbus des neben Nina Hagen einzig verbliebenen Originals im deutschen Unterhaltungsgeschäft verhilft. Hier der Flachwitzreißer Otto, dort der Elder Statesman Udo. So gesehen ist auch dies eine schöne Illustration an einem bezaubernden Abend, der einen Udo Lindenberg zeigt, der nach einem bekrönenswerten Lebenswerk nun ganz bei sich angekommen ist.

Quelle: StN.de, 06.07.19